Dr. Rudolf Lehmann - Ambivalenz

An dieser Stelle können aktive Mitglieder des Forums ihre Beiträge leisten. Diese müssen somit nicht zwingend einem Thema der "Neues"-Seiten zugeordnet sein.
Christian neu in SFB
Beiträge: 178
Registriert: So 21. Nov 2021, 19:30

Dr. Rudolf Lehmann - Ambivalenz

Beitragvon Christian neu in SFB » Sa 1. Nov 2025, 11:28

Dr. Rudolf Lehman – Ambivalenz

(Auszug aus „Sorbische Geschichte –Die Lausitz erzählt“ von Heinz-Christian Hübner, Band 6, Seite 154 ff)

1933-1945 Die Lausitz erzählt – mit bitterer Stimme

„Ich habe vieles gesehen. Auch das Verschwinden von Worten. Aber ich trage sie weiter – in meinen Wäldern, in den Stimmen meiner Kinder. Und wer glaubte, mich zum Schweigen zu bringen, der hat nur gelernt, dass ich leise lauter bin.“
– die Lausitz spricht mit Würde, aber auch mit Verletzung. Sie urteilt nicht direkt, sondern erinnert.

„Ich erinnere mich an eine Zeit, in der man versuchte, mich umzuschreiben. Zwischen 1933 und 1945 wurde meine Geschichte neu sortiert – nicht von mir, sondern von jenen, die sich berufen fühlten, meine Kinder zu bewerten.
Einer von ihnen war Rudolf Lehmann. Er kannte meine Wege, meine Dörfer, meine Stimmen. Und doch stellte er sich in den Dienst einer Idee, die mich verstummen lassen wollte.

Er schrieb von den Sorben, als wären sie ein Irrtum. Er sprach von einer überlegenen deutschen Kultur, die mich reinigen sollte. Und als die Domowina verstummte, als Bücher verschwanden, als Namen ausgelöscht wurden – da blieb er stumm.

Ich habe ihn gesehen, wie er versuchte, nach 1945 wieder zu schreiben. Doch die Tinte roch noch nach gestern. Die Sorben wollten ihn gewinnen – als Lehrer, als Forscher. Aber er blieb fern. Vielleicht war er zu ehrlich, vielleicht zu stolz.

[b]Vielleicht hatte er gewußt, dass ich mich erinnere.“


Historische Notiz – sachlich, aber mit Haltung

• Rudolf Lehmann (1891–1984) war ein deutschstämmiger Heimatforscher, der sich intensiv mit der Geschichte der Sorben/Wenden in der Niederlausitz beschäftigte. Seine frühen Arbeiten zeugen von Interesse und Kontakt zur westslawischen Kultur, doch bereits in den 1920er Jahren vertrat er die Auffassung, die „primitive“ slawische Kultur müsse wissenschaftlich durch die „überlegene deutsche Kultur“ ersetzt werden.

• Im Kontext der NS-Politik wurde 1937 die Domowina verboten, wendische Literatur beschlagnahmt und ab 1940 eine Deportation „nicht germanisierbarer“ Wenden vorbereitet. Die Verantwortung lag zunächst bei der „Wendischen Abteilung“ im Regierungspräsidium, später bei der „Publikationsstelle“ Berlin-Dahlem unter SS-Kontrolle.
• Während des Nationalsozialismus übernahm Lehmann den Vorsitz der Niederlausitzer Gesellschaft und nutzte deren Zeitschrift ab 1937 zur Verbreitung der Idee einer „rassisch reinen deutschen Heimat“, in der die sorbische Identität ausgelöscht werden sollte.
• Nach 1945 blieb Lehmann wissenschaftlich aktiv, lehnte jedoch eine Zusammenarbeit mit sorbischen Institutionen ab und kritisierte die Sorbenförderung in der DDR als „künstlich aufgebläht“. Quellen: Dr. P. Schurmann, Michael Richter, LĚTOPIS. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur.

Die Lausitz erzählt „Nach dem Krieg war ich still. Nicht aus Erschöpfung, sondern aus Erwartung.“

Die Menschen kamen zurück. Manche mit neuen Worten, manche mit alten Wunden. Und meine Kinder – die Sorben – spürten, dass man ihnen wieder zuhören wollte. Es war 1948, vielleicht 1949, als sich etwas bewegte. Die neue Ordnung sprach von Mitbestimmung, von Kultur, von Zugehörigkeit. Und ich sah, wie meine Sprache wieder aufblühte – nicht überall, nicht bei allen, aber doch spürbar.
Doch es war kein gerader Weg. Diskussionen, Maßnahmen, Missverständnisse – sie legten sich wie Nebel auf den Dialog. Manche wollten helfen, andere wollten lenken. Und oft wurde über die Sorben gesprochen, aber nicht mit ihnen. Ich erinnere mich an die Ignoranz gegenüber ihren Werten, an die Verletzungen ihres Selbstwertgefühls.

Das war nicht nur der Anfang eines neuen Systems – es war auch das Echo des alten. Die Narben des Nationalsozialismus lagen noch offen. Die Angst, wieder vergessen zu werden, war groß. Und auch wenn Gesetze kamen, die ihre Sprache und Kultur schützen sollten – nicht jeder fühlte sich sicher. Ich habe gesehen, wie Hoffnung tastend wächst. Und wie Erinnerung nicht nur schmerzt, sondern auch trägt. [Quellen: Dr. P. Schurmann, LĚTOPIS. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur]

Rudolf Lehmann hat in seinem Buch „Geschichte des Wendentums in der Niederlausitz“ [Verlag Langensalza 1930] eine antislawistische Rolle eingenommen.

In seiner Meinung war er eins mit dem umtriebigen, ehrgeizigen Walter Frenzel (Bautzen). Beide Wissenschaftler wurden zu Hauptfiguren eines zwischen Bautzen, Leipzig und Berlin angesiedelten Systems von Behörden, Dienststellen und Persönlichkeiten, denen es um die argwöhnische Überwachung, wirksame Kontrolle und bewusste Zurückdrängung des sorbischen Volkstums mit dem Ziele ging, diese immer noch lebenskräftige Minderheit einzudämmen und auf ihr endliches Verlöschen hinzuarbeiten [F. Förster, Domowina-Verlag, Bautzen 2007, 252 S].

Wendenfrage in der NS-Zeit

Frank Förster: analysiert die „Wendenfrage im Nationalsozialismus in einer zeitlich gegliederten Darstellung, die am Ende des Ersten Weltkrieges einsetzt, als mit der Verschiebung der deutschen Ostgrenze nach Westen der „Volkstumskampf“ einen Auftrieb erlebte, dass die „Wendenfrage“ im Zusammenhang mit der Volks- und Kulturbodenforschung die Lausitzer Sorben in ein stärkeres politisches Interesse rückte.
1933-1935: Der Große Herder (Lexikon 1935): „die Sorben, in der Ober- und Niederlausitz sind »Nachkommen der mit anderen slawischen Stämmen im 6. Jahrhundert eingewanderten Wenden«. Hinsichtlich Sprache, Kultur und Volksbräuchen, so hieß es weiter, führe die heute (…) etwa 62.000 Köpfe zählende slawische Volksgruppe« ein staatlich anerkanntes Eigenleben, das von den Wenden in Sachsen (etwa 30.000) bewusster als von den preußischen Wenden gepflegt wird« [N.N. 1935: 960f.].

• Die Strategie der NS-Administration und ihrer Propaganda lief nunmehr darauf hinaus, zum einen an den in Festen, Trachten und Bräuchen gegenwärtigen Kulturmustern festzuhalten, zum anderen aber die störenden sorbisch-wendischen Assoziationen auszublenden, zu verfälschen und dem Vergessen anheim zu geben: „das möglichst lautlose, aber mit gesteigertem Nachdruck betriebene Verschwindenlassen der Sorben in der „deutschen Volksgemeinschaft“ [Lehmann, Frenzel, siehe oben].
• Etliche Beiträge der Printmedien zu Themen wie Bäuerliches Brauchtum (Stricker 1937), Lübbenau und der Spreewald (Focke 1937), Heimatfeste in Lübbenau (Veith 1937) oder Osterfeste und Osterbräuche 8Schielke 19369 zehrten zwar nach wie vor vom Schauwert des weithin sorbisch geprägten Kulturerbes, ordneten dieses aber lediglich den ethnisch neutralisierten »Spreewaldbauern« zu [Jacob, U. (2008). "Verwachsen mit der Scholle": zur Ambivalenz des medialen Wendenbildes im "Dritten Reich". Rehberg (Hrsg.), [Bild: Hahnrupfen]. Schwarze Elster.

Vom Ruch des völkisch und rassisch Fremden befreit, konnte im Jahre 1937 neben einer Bückeburger Bäuerin, einer rheinischen Winzerin und anderen Trachtenfiguren auch eine »Spreewälderin« als Abzeichen für die Straßensammlungen des »Winterhilfswerkes« gestaltet werden [Senftenberger Anzeiger, 19.3.1937].
Verkehrsamt Lübbenau: „die hiesigen Sitten und Gebrächen sind zu einem »Jungborn unseres Volkstums« geworden. Die alljährlich wiederholten Trachtenfeste und Heimatspiele wurden als »ein machtvolles Bekenntnis zum neuen Staate« erhoben [Veith 1937].

Die Jahre der Verdrängung – Die Lausitz schweigt nicht

Die Lausitz erinnert sich. An die Jahre, in denen die Domowina noch stand – wie ein Baum im Sturm, dessen Wurzeln tief in der sorbischen Erde griffen. Pawoł Nedo, ihr Vorsitzender, hielt die Krone aufrecht, solange der Wind es zuließ. Doch der Sturm wurde stärker.

Ab 1936 begann das große Verleugnen. Die Sorben wurden nicht mehr als Volk gesehen, sondern als Schatten eines deutschen Stammes. Ihre Fahne – eingeholt. Ihre Hymne – verstummt. Ihre Orte – umbenannt, als hätte man ihnen das Gedächtnis geraubt. In den Dörfern, wo einst Kinder sorbisch sangen, klangen nun deutsche Reime aus neuen Kindergärten. Die Sprache der Vorfahren wurde zur Sprache des Schweigens.

Die kulturelle Eigenart – ignoriert. Die Unterschiede – verheimlicht. Die Vielfalt – nivelliert.
Als Nedo sich weigerte, die Sorben als „wendisch sprechende Deutsche“ zu deklarieren, fiel der letzte Schutz.
Am 18. März 1937 wurde die Domowina verboten. Mit ihr verstummten die Druckerpressen, schlossen sich die Tore der Maćica Serbska, verschwanden Bücher, Archive, Unterricht. Die Kirchen wurden überwacht, Bräuche verboten, Rituale germanisiert. Die sorbische Sprache – aus der Öffentlichkeit verbannt.

Ein Brauch wie der Maibaum, einst Ausdruck sorbischer Lebensfreude, wurde erst verboten, dann als „germanisches Brauchtum“ vereinnahmt. Nach dem Krieg, als die Dörfer sich leerten und die Felder kollektiviert wurden, verstummte auch dieser Brauch. Erst in den 1970er Jahren kehrte er zaghaft zurück – getragen von der Erinnerung und dem Willen der Domowina.

Doch nicht alle Erinnerungen kehrten zurück. Manche blieben in den Mauern der Lager, in den Zellen der Gefängnisse. Jan Meškank, Pawoł Nedo, Jan Cyž, Jurij Cyž – sie wurden verhaftet, einige starben. Die Lausitz hat ihre Namen nicht vergessen.

Nach dem Krieg flackerte Hoffnung auf: eine Loslösung von Deutschland, eine Hinwendung zur Tschechoslowakei. Doch die politische Wirklichkeit war eine andere. Und als 1948/49 erneut antisorbische Kampagnen die sowjetische Besatzungszone durchzogen – mit Verboten, Überwachung, willkürlichen Verhaftungen – wurde klar: Die Geschichte der Sorben war noch lange nicht frei.

Historische Notiz: Rudolf Lehmann war ein lokaler Historiker deutscher Herkunft, der in seiner Zeit am intensivsten und in den verschiedensten Kontexten mit der Entwicklung der Sorben/Wenden in Niederlausitz arbeitete.
Dieses hohe Maß an Interesse, Aufgeschlossenheit und Toleranz gegenüber der sorbischen/wendischen Volksgruppe stammt aus seinen langjährigen Kontakten mit Vertretern der westslawischen Nation, deren Interessen er in seiner lausitzischen Heimat gelegentlich unterstützte, auch nach 1933.
Zur gleichen Zeit, als er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre an dem Projekt „Monographie der Wenden“ arbeitete, fühlte er sich verpflichtet, „die öffentliche Wahrnehmung der Wenden und der Slawen als primitiv und die Legitimität des Sieges einer überlegenen deutschen Kultur wissenschaftlich zu unterstützen“.

Lehmann konnte sich nicht von dieser programmatischen Linie zurückziehen, schon gar nicht unter dem Nationalsozialismus, nachdem er die Leitung der Niederlausitzer Gesellschaft übernommen hatte und für die Veröffentlichung ihrer Zeitschrift verantwortlich war.
Ab 1937 unterstützte er dieses Medium, um die von den NS-Institutionen, speziell für Lussatien, ausgerufene Idee der „Idee einer ‚rassisch reinen‘ deutschen Heimat“ zu unterstützen, in der „alle Erinnerung an die ethnisch-kulturelle Autonomie der sorbischen Volksgruppe [...] aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden sollte“.

• Er konnte sich auch nach 1945 nicht von diesem Konflikt befreien.
Einerseits versuchte er zu beweisen, „dass Niederlausitzer Sorben nie gewaltsam germanisiert worden waren“, mit der möglichen Ausnahme der nationalsozialistischen Zeit.
Auf der anderen Seite hörte er nicht auf, akademisch an der Geschichte der Sorben zu arbeiten, auch nachdem er die DDR verlassen hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Sorben versucht, ihn als akademischer Kollege und Hochschullehrer zu gewinnen. Aber er- als Ergebnis seiner Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und seiner grundsätzlich konservativen Sichtweise, war konsequent genug, „um die sorbischen politischen Bemühungen nicht zu unterstützen“, zumal er die „künstliche Inflation der Unterstützung für die Sorben“ in der DDR als sinnlos betrachtete. [Dr. P. Schurmann, Zeitschrift: LĚtopis. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur. Časopis za rěč, stawizny a kulturu Łužiskich Serbow, 2018, Nr. 2, S.27]


1933 – 1945 Wendenfrage in der NS-Zeit

Die NS-Periode zeigt in konzentrierter Form, wie Wissenschaft, Verwaltung und Propaganda zusammenwirken können, um eine lebendige Minderheit zu entrechten und zu verschieben. Die anfängliche, scheinbar wohlwollende Folklorisierung der „Wendenreste“ verwandelte sich rasch in eine gezielte Politik der Entwertung, Disziplinierung und schrittweisen Auslöschung sorbischer Öffentlichkeit und Selbstorganisation.

Vom folkloristischen Schein zur repressiven Praxis:
Was nach freundlicher Neugier aussah — Musealisierung, Trachtenbilder, Heimatmuseen — diente bald als Vehikel zur Entpolitisierung sorbischer Kultur. Feste, Trachten und Liedgut wurden ausgesucht, entfärbt und als harmloser Schmuck inszeniert, während die lebendige Sprache, die Vereine und die publizistische Arbeit systematisch verboten und zerschlagen wurden. Die Abfolge war taktisch: zunächst Attraktion und Einordnung, dann Einschränkung und schließlich Verbot und Verfolgung.

Wissenschaft als Instrument antislawischer Politik

Wissenschaftler und ostforschende Institutionen lieferten die intellektuelle Legitimationsmaschinerie für diese Politik. Namen wie Dr. Rudolf Lehmann oder Walter Frenzel stehen für eine Forschung, die nicht neutral blieb, sondern aktiv zur Enge der Handlungsspielräume der Sorben beitrug.[ Rudolf Lehmann hat in seinem Buch „Geschichte des Wendentums in der Niederlausitz“, Verlag Langensalza 1930, eine antislawistische Rolle eingenommen].

Formen des Widerstands und kulturelle Beharrungskraft

Trotz der Repressionen blieben Sorben nicht bloß passives Objekt. Heimliche Treffen, private Sprachweitergabe, das Bewahren von Liedern und Ritualen, die Weitergabe von Namen und Ortswissen — all das formte überlebensfähige Netzwerke des Widerstands. Auch innerkirchliche und lokale Aktionsformen, vereinzelt juristische Einsprüche und das dokumentarische Festhalten von Bräuchen bewahrten Identitätsspuren, die nach 1945 wiederaufgegriffen wurden. [[F. Förster, Domowina-Verlag, Bautzen 2007, 252 S, vgl. Bauer 1993: 12f. und 259f, Roedemeyer 1934: 198–201, Nach Bauer 1993: 12 und 258, Teumer/Vogel 1933: 24f, Der Große Herder 1935: 960f.].

Langfristige Folgen und Mahnung

Die NS-Politik hinterließ tiefe Narben: Institutionelle Zersplitterung, Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Schutzversprechen, personelle Verluste in Bildung und Kulturarbeit sowie einen beschleunigten Sprachrückgang in so betroffenen Regionen. Zugleich machte die Erfahrung deutlich, wie verletzlich Minderheiten sind, wenn Wissenschaft und Verwaltung zu Mitteln der Ausgrenzung werden.
Schlussruf.

Die Geschichte der Wendenfrage in der NS-Zeit ist kein bloßes Kapitel regionaler Wissenschaftsgeschichte; sie ist Warnung und Verpflichtung zugleich.

Warnung vor der Verführung, Kultur auf Folklore zu reduzieren und Wissenschaft zur Legitimationsmaschine zu machen.

Verpflichtung, Erinnerung zu bewahren, die Tätermechanismen zu benennen und die Kontinuität sorbischer Kultur- und Spracharbeit zu schützen. Wer heute Lieder, Namen und Bräuche sammelt, betreibt keine harmlose Antiquaristik, sondern die Fortführung eines Lebensrechts, das einst bedroht und dem man damals mit taktischer Gewalt entgegentrat.

Die Lausitz, ihre Sprache und ihre Menschen verdienen ungeteilte Anerkennung, und der historische Blick muss wachsam lehren, wie schnell scheinbare Fürsorge in zynische Enteignung umschlagen kann.

Historische Notiz:
Die gesellschaftlichen, vor allem aber die institutionellen Rahmenbedingungen ermöglichten es den Sorben ab 1948/49, durch kulturelle und politische Mitbestimmung ein Zugehörigkeitsgefühl zur DDR zu entwickeln. Ihre eigene kulturelle Identität wurde gestärkt.
Die Angehörigen der slawischen Minderheit in der Lausitz spürten, dass ihre Sprache und Kultur ernster genommen wurden als in den Jahrzehnten zuvor. Dieser Prozess verlief keineswegs reibungslos und wurde durch verschiedene Maßnahmen und Diskussionen geschwächt, die sich negativ auf den interkulturellen Dialog und Austausch auswirkten. Die Ignoranz sorbischer Werte und Ziele führte zu einer gewissen, teilweise nachhaltigen Schädigung ihres sorbischen Selbstwertgefühls.

• Begründet wurden diese Minderheitenschutzartikel durch Wilhelm Pieck im Jahr 1947 wie folgt: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ist der Auffassung, dass den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Interessen der sorbischen Bevölkerung am besten durch eine enge wirtschaftliche und politische Gemeinschaft mit dem deutschen Volke in einem einheitlichen demokratischen und friedlichen Deutschland gedient ist.“
Zitiert nach: Schiller, Klaus J.; Thiemann, Manfred: Geschichte der Sorben, Band 4: Von 1945 bis zur Gegenwart (= Schriftenreihe des Instituts für sorbische Volksforschung in Bautzen, Bd. 42). Bautzen 1979, S. 74.

• Dies war nicht nur Teil der Anfangsschwierigkeiten des neuen kommunistischen Gesellschaftssystems, sondern auch auf die Nachwirkungen und das negative Erbe des NS-Regimes zurückzuführen, das den Höhepunkt einer aggressiven, sorbenfeindlichen Politik darstellte. Die ersten Bestimmungen zur gesetzlich verankerten Förderung der sorbischen Sprache und Kultur führten jedoch nicht zwangsläufig zu einem Gefühl größerer kultureller Sicherheit bei allen Sorben. [Dr. P. Schurmann, Zeitschrift: LĚtopis. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur. Časopis za rěč, stawizny a kulturu Łužiskich Serbow, 2017, Nr. 2, S.99]

Historische Notiz:
Die Frage des Anteils der wendisch-sorbischen Bevölkerung an der deutschen Bevölkerung war im gesamten 20. Jahrhundert umstritten.
Die Nationalsozialisten waren nicht die ersten, die die wendische Ethnizität ignorierten, indem sie die Wenden als Deutsche mit slawischer Sprache betrachteten. Die Domowina stellte die Gültigkeit der Zahlen der Volkszählung von 1925 zur wendischsprachigen Bevölkerung in Frage und veranlasste eine eigene Zählung, die jedoch keine statistisch belastbaren Ergebnisse lieferte.

• Auch die Volkszählung von 1939, bei der fast alle Wenden angesichts drohender Repressionen ihre Bindung an die wendische Ethnizität verleugneten, war nicht valide.

• Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 1945 stellte die Domowina die Gültigkeit der von der sowjetischen Besatzungsmacht angeordneten Volkszählungen in Frage und reagierte wie in der Weimarer Republik mit eigenen Zahlen.

• Diese überzogenen Statistiken waren ebenso irrelevant wie die offiziellen Zahlen. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Volkszählungen zwischen 1910 und 1946 einen stetigen, teilweise starken Rückgang der wendisch-sorbischen Bevölkerung im Zeitraum von der Weimarer Republik bis zur Sowjetischen Besatzungszone.[ Michael Richter, Zeitschrift: LĚtopis. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur. Časopis za rěč, stawizny a kulturu Łužiskich Serbow, 2018, Nr. 2, S.21-49]

Historische Notiz:

• In den ersten Jahren der NS-Herrschaft, zwischen 1933 und 1936, konnte die Domowina – der Dachverband sorbischer Vereine – ihren Einfluss auf das sorbische Leben noch wahren. An ihrer Spitze stand Pawoł Nedo, der sich zunächst loyal gegenüber dem neuen Regime zeigte. Diese Haltung schützte die Organisation vorerst vor dem Zugriff der Nationalsozialisten.

• Doch ab 1936 änderte sich das Klima dramatisch. Die nationalsozialistische Ideologie begann, die kulturelle Eigenständigkeit der Sorben systematisch zu leugnen. Sie wurden nun nicht mehr als eigenständiges Volk anerkannt, sondern als „deutscher Volksstamm“ umgedeutet. Nationalsymbole wie die sorbische Fahne und Hymne wurden verboten, Ortsnamen slawischen Ursprungs durch deutsche ersetzt. In den sorbischen Kernregionen entstanden deutschsprachige Kindergärten – ein gezielter Versuch, die Sprache und Kultur der Sorben aus dem Alltag zu verdrängen.

• Die kulturelle Vielfalt der Lausitz wurde nicht nur ignoriert, sondern aktiv ausgelöscht. Als Pawoł Nedo sich 1937 weigerte, eine neue Satzung zu unterzeichnen, die Sorben lediglich als „wendisch sprechende Deutsche“ definierte, war das Maß für die Machthaber voll. Am 18. März 1937 wurde die Domowina verboten. Gleichzeitig wurden sorbische Verlage und Druckereien geschlossen, die traditionsreiche Maćica Serbska aufgelöst, ihre Bibliothek und ihr Archiv beschlagnahmt. Der sorbische Schulunterricht verschwand, Kirchen gerieten unter staatliche Kontrolle, Bräuche und Rituale wurden verboten oder in „germanisierter“ Form umgedeutet. Selbst der öffentliche Gebrauch der sorbischen Sprache war nun untersagt.

• Ein Beispiel für diese kulturelle Aneignung ist der Maibaum: Einst ein lebendiger sorbischer Brauch, wurde er zunächst verboten – nur um später als „germanisches Brauchtum“ wieder eingeführt zu werden. Nach dem Krieg verschwand er fast vollständig, nicht zuletzt durch die Abwanderung der Landbevölkerung und die Kollektivierung der Landwirtschaft. Erst in den 1970er Jahren lebte er – dank des Engagements der Domowina – in einigen Orten wieder auf.

• Die Repressionen beschränkten sich nicht auf kulturelle Verbote. Zahlreiche Sorbinnen und Sorben wurden verhaftet, einige von ihnen starben in Konzentrationslagern oder Gefängnissen. Zu den Inhaftierten zählten der Heimatforscher Jan Meškank, der Domowina-Vorsitzende Pawoł Nedo, der Pfarrer Jan Cyž und der Anwalt Jurij Cyž.

• Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keimte kurzzeitig Hoffnung auf: In Teilen der sorbischen Bevölkerung entstand die Idee, sich von Deutschland zu lösen und sich der Tschechoslowakei anzuschließen. Doch politische Realitäten und die Zusammensetzung der Bevölkerung in der Lausitz machten diesen Traum unmöglich. Stattdessen kam es in der sowjetischen Besatzungszone 1948/49 erneut zu antisorbischen Maßnahmen: Sorbischsprachige Flugblätter und Plakate wurden verboten, Veranstaltungen überwacht, Menschen willkürlich verhaftet. [Michael Richter, Zeitschrift: LĚtopis. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur. Časopis za rěč, stawizny a kulturu Łužiskich Serbow, 2018, Nr. 2, S.21-49] Vgl. dazu: Schurmann, Peter: Die sorbische Bewegung 1945-1948

• Der Zweite Weltkrieg führte zu einer Verschlechterung der Sorbenpolitik. Waren bis 1939 vor allem Lehrer und Pfarrer der Oberlausitz von Zwangsversetzungen betroffen, richteten die Behörden nach 1939 auch ihr Augenmerk auf die Niederlausitz. Die NS-Behörden planten 1940 die Umsiedlung einer großen Zahl sorbischsprachiger Lehrer und Pfarrer, da diese einer „Endlösung der Wendischen Frage“ im Wege standen. Dies wurde jedoch nach den ersten militärischen Niederlagen an der Ostfront nicht in die Tat umgesetzt. Den Betroffenen wurde jedoch eindringlich eingeschärft, „im Gebrauch der wendischen Sprache äußerste Zurückhaltung“ zu üben. In der Folge waren religiöse Aktivitäten, insbesondere Gottesdienste, in wendischer Sprache nicht mehr gestattet. Zudem wurden alle Formen wendischer Wortgottesdienste, die in einigen Gemeinden noch durchgeführt wurden, eingestellt. Zudem durften die wendischen Lehrer keinen Bibelunterricht mehr geben und bei Beerdigungen nicht mehr in ihrer Muttersprache gesungen werden. Die NS-Regierungsstellen mussten dafür sorgen, dass in den Schulen und Kirchen der Niederlausitz ausschließlich die deutsche Sprache verwendet wurde. [Edmund Pech, Peter Schurmann, Zeitschrift: LĚtopis. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur. Časopis za rěč, stawizny a kulturu Łužiskich Serbow, 2020, Nr. 2, S.112-142]

• Die Festschrift zur Wiedereröffnung des Senftenberger Heimatmuseums am 1. Oktober 1933 rechnete das »Wendentum« dem »großen Erbe der Heimatscholle« zu. Umstandslos wurde die im Museumsparcours enthaltene Nachbildung einer ländlichen Wohnsituation als »Wendische Bauernstube« bezeichnet [Teumer/Vogel 1933: 24f]. Im Jahre 1934 diente das Konterfei einer Bäuerin aus Heinersbrück bei Cottbus als »Urbild« für die so genannte »Trachtenbriefmarke Kurmark«. Die Berichterstattung über das junge »Trachtenmädchen-Modell« im Heimatkalender für die Niederlausitz von 1936 hob ausdrücklich hervor, dass in der Heinersbrücker Kirche bis auf den heutigen Tag »wendisch gesungen (wird) und der Lehrer (…) wendischen Lesegottesdienst ab (hält)« [Nach Bauer 1993: 12 und 258].

• Kommentierend wurden »die wendischen Reste« als ein »reizvolles Seitenthema im deutschen Volkstum« [Roedemeyer 1934: 198–201] gewürdigt. In Übereinstimmung mit diesem trügerischen Laisser-faire medialer Wendenfreundlichkeit gaben sich auch die nationalsozialistischen Machthaber verständnisvoll bis sympathisierend. Eingespiegelt in die anheimelnden Inszenierungen des Lausitzbildes bekundeten sie Anteilnahme am Wohl und Wehe ihrer wendischen »Volksgenossen«. Alle Germanisierungsabsichten wurden rundweg geleugnet. Pressefotos zeigten Adolf Hitler (schon 1932 aufgenommen) und den kurmärkischen Gauleiter Wilhelm Kube demonstrativ im Kreise haubengeschmückter Spreewälderinnen [vgl. Bauer 1993: 12f. und 259f].

• Ab 1936 kommt es aber zu einer Umkodierung des medialen Wendenbildes [d.A.].

• Ab 1937 wurde der Minderheit jegliche volkstumsbezogene Pressearbeit verboten, der öffentliche Gebrauch ihrer Muttersprache untersagt, die »Domowina« und andere Organisationen mit Versammlungsverbot belegt oder zwangsweise aufgelöst. Durch antislawische Ausrichtung der deutschen Ostforschung gerieten auch die Lausitzer Sorben ins Blickfeld der damaligen Ostforscher. Die Studie trägt einen betont dokumentarischen Charakter, wodurch dem Leser anschaulich die ideologische Ausrichtung dieser Institutionen und mancher ihrer Mitarbeiter (Lehmann, Frenzel) vor Augen geführt wird. Hauptweg und vorrangiges Ziel in der sogenannten Wendenfrage war das möglichst lautlose, aber mit gesteigertem Nachdruck betriebene Verschwindenlassen der Sorben in der „deutschen Volksgemeinschaft“. [F. Förster, Domowina-Verlag, Bautzen 2007, 252 S].

Der Senftenberger Stadtrat Uhlich hatte Rudolf Lehmann Anfang 1948 damit beauftragt, die Bestände des Senftenberger Stadtarchivs zusammenzubringen, zu ordnen und zu verzeichnen, eine Aufgabe, für die er monatlich etwa 100 Mark erhielt. Mit der Herstellung eines Findbuches und der Neuaufstellung der Bestände im Senftenberger Schloss (Archivstandort) hat Lehmann die übernommene Aufgabe pflichtgemäß zum Abschluss gebracht.[/b]

In Personalunion hat Lehmann dabei auch über die Archivierung eigener Unterlagen aus der NS- Zeit entschieden.

Zurück zu „Dies und das“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 23 Gäste