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Neues 310 - 2018-01-21

Verfasst: Sa 20. Jan 2018, 09:33
von Matthias
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Re: Neues 310 - 2018-01-21

Verfasst: So 21. Jan 2018, 14:10
von Harald
Kirchenmaus final_resize.jpg
Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle?

Ich heiße AMBROSIUS BRÖSELEIN, bin eine kleine, stille, verschwiegene, aber sehr fromme KIRCHENMAUS.
Meine Familie lebt schon seit Generationen in der Sakristei der

STADTKIRCHE ST. PETER & PAUL in SENFTENBERG

...und ich für meinen Teil bin mit dem Leben an diesem Ort recht zufrieden:
Ich streune unbemerkt in der Kirche umher, knabbere hier und da mal an Bibeln oder umherliegenden Gesangbüchern,
genieße aber vor allem jeden Sonntag die kirchlichen Gesänge, die von 2200 Pfeifen der Kirchenorgel. begleitet werden.
Selbstredend bin ich von der Kirchensteuer befreit, warte allerdings, bislang leider vergeblich, auf eine Getreidekollekte,
denn wir KIRCHENMÄUSE sind scheinbar die einzigen Wesen, die von der Kirche leben, und nicht dick und fett dabei werden.
Deshalb wandere ich gelegentlich durch die engen Gassen unserer Stadt, besuche verschiedene Häuser, um Brosamen, aber auch Menschen~ und Weltkenntnis einzusammeln, vor allem aber, um einmal mit den anderen WELTLICHEN MÄUSEN die Lüste des Fleisches zu genießen, welche man ansonsten nur aus den Predigten des Herrn Pastor kennt.
Als Bewohner von GOTTESHÄUSERN werden wir fälschlicherweise immer für sehr arm gehalten, daher der Ausspruch „Arm wie eine Kirchenmaus“.
Dies trifft allerdings nur auf das Nahrungsangebot zu.
In Wahrheit sind wir ziemlich wohlhabend, verfügen wir doch über äußerst wertbeständige Immobilien und üppigen Besitzstand, was besonders bei Mäusen deutlich wird, die z.B. in bayerischen Dorfkirchen zu Hause sind. Allein die blattgold-verzierten Kunstgegenstände sind dort oft schon ein kleines Vermögen wert.
Da es sich aber bei meiner Heimstatt um eine weitestgehend schmucklose Hallenkirche aus dem Spätmittelalter handelt, halten sich unsere Reichtümer in überschaubaren Grenzen.

kirchengeschichte_resize.jpg

Dank der Kirchenbibliothek bin ich auch belesen und weiß,
dass bis zum Jahre 1890 der KIRCHTURM ein stumpfes SATTELDACH trug.
An seine Stelle trat damals bei der gründlichen Erneuerung des Gotteshauses ein UHRGESCHOSS mit spitzem, achtseitigem HELM.
Mit der UHR gab es wohl im Jahre 1929 mächtig Huddelei, wovon mir die KRÄMERMAUS Mariechen Knusperkorn erzählte,
die dies im >Senftenberger Anzeiger< erknabbert hatte:

11. April 1929
(Die Turmuhr wird instandgesetzt und modernisiert)


„Seit gestern ist die TURMUHR außer Betrieb gesetzt worden zwecks Ausführung größerer REPARATUREN und Einbaues eines elektroautomatischen Aufzugs. Damit wird seit der Anschaffung der Uhr im Jahre 1898 die erste Ueberholung ausgeführt.
Bisher mußte die UHR jeden Tag aufgezogen werden, da sie nur mit einem 24-Stundenwerk ausgestattet war. Nach EINBAU des automatischen Aufzugs mittels Elektromotor, der eingeschaltet wird, wenn die Gewichte eine gewisse Tiefe erreicht haben und ähnlich auch wieder selbsttätig ausgeschaltet wird,
kommt das Tägliche Aufziehen in Wegfall.
Falls die UHR nicht an die ZENTRAL-UHRENANLAGE im RATHAUS angeschlossen wird, ist von Zeit zu Zeit nur noch ein Nachstellen notwendig.
Wichtiger als der Anschluß an die Zentral-Uhrenanlage ist vorerst die BELEUCHTUNG der drei übrigen ZIFFERBLÄTTER,
zumindest der nach Süden und Norden.
Die REPARATUR wird ca. 4 Wochen in Anspruch nehmen.“

14. Mai 1929
(Die Reparatur der Kirchturmuhr steht vor der Vollendung)


„Das Fehlen eines ZEITMESSERS über allen Giebeln und Dächern hat sich recht unangenehm bemerkbar gemacht.
Stets flog der Blick an die dem Auge vertraute Stelle unseres KIRCHTURMS, jedoch seit Wochen – immer >neune< – .
Da ist es zu begrüßen, daß die INBETRIEBNAHME DER KIRCHTURMUHR in den nächsten Tagen bevorsteht.
Neben den bereits schon angekündigten NEUERUNGEN im Werk der Uhr ist in Aussicht genommen,
auch das nach Norden gerichtete ZIFFERBLATT zu erleuchten, und den ANSTRICH DER ZIFFERBLÄTTER nach Süden und Osten zu erneuern.
Eine weitere NEUERUNG wird eintreten:
Alle ZIFFERBLÄTTER erhalten arabische Ziffern, im Gegensatz zu der bisherigen römischen Bezifferung.“

26. Juni 1929
(Wie lange bleibt der Kirchturm noch ohne Uhr ?)


„Wir hatten an dieser Stelle schon mehrfach Gelegenheit, über die REPARATUR DER KIRCHTURMUHR und über die damit im Zusammenhang stehenden NEUERUNGEN zu berichten.
Wir haben dabei nie verfehlt, hinzuweisen, daß die baldige Beendigung der Reparatur größte Notwendigkeit ist. Auf entsprechende Anfragen wurde uns die Antwort zuteil, daß von der ausführenden Fa. Bernhard Zachariä-Leipzig die Beendigung der Reparatur mit schnellstens folgendem EINBAU für die ‚nächsten‘ Tage in Aussicht gestellt worden sei. Leider haben sich die ‚nächsten‘ Tage trügerisch erwiesen.
Aus den nächsten Tagen wurden nächste Wochen.
Heute, nach einem Vierteljahr, sind wir noch ohne KIRCHTURMUHR.
Es kling wie ein Hohn, wenn vielleicht auf der nächsten Seite dieser Zeitung ein Aufsatz zu lesen ist, der den Fortschritt der Technik und Blitzlauf des zeitlichen Geschehens rühmt.
Die Fa. Zachariä hat gewiß als Lieferantin von Kirchturmuhren und Ausführung von Uhrenreparaturen einen guten Ruf, sie wird sicherlich nicht die Absicht haben, diesen guten Ruf durch die unverständlich lange Dauer der Ausführung der hiesigen Kirchturmuhr zu schmälern.
UNSERE STADT IST KEIN DÖRFCHEN IN IRGENDWO, unsre STADT hat nahezu 20000 Einwohner im Mittelpunkt des Niederlausitzer Braunkohlenreviers.“

12. Juli 1929
(Die Kirchturmuhr wieder in Betrieb)


„Seit Anfang der Woche sind Monteure der Fa. B. Zachariä-Leipzig beschäftigt, die instandgesetzte KIRCHTURMUHR wieder einzubauen, und wenn die Voraussetzungen nicht trügen, wird vielleicht heute zur Abendstunde der eherne Munde unsers lange entbehrten ZEITMESSERS die Stunde verkünden.
Die bereits angekündigte BELEUCHTUNG des Zifferblattes nach der Nordseite wird ebenso wie der NEUANSTRICH DER ZIFFERBLÄTTER und die Anbringung der leichter lesbaren arabischen Ziffern allerseits begrüßt werden.
Damit ist endlich dem Wunsche der Bevölkerung nach einer öffentlichen städtischen,
abends beleuchteten UHR MIT SCHLAGWERK Genüge getan.
Das verdanken wir im wesentlichen den unablässigen Bemühungen von Uhrmachermeister Schmidt, die Lieferfirma zur Erfüllung ihrer Vertragspflichten anzuhalten.“

Kirchenbrand_resize.jpg

Übrigens war für uns KIRCHENMÄUSE die STADTKIRCHE schon seit ihrer Erbauung in der ersten Hälfte des 15.Jahrhunderts ein sprichwörtlich „heißes Pflaster“:
Als im Jahre 1509 die ganze Stadt in Feuer aufging, brannte auch das Dach der Kirche und des Turmes nieder. Beim großen Brand am 26. August 1641 brannte abermals das Kirchendach nebst Dach des Glockenturmes ab. Am 5. September 1670 brannte die ganze Stadt nebst Turm der deutschen Kirche.
Bei einem der vielen STADTBRÄNDE am 15. Mai 1717 fingen Kirchendach und Glockenstuhl Feuer; drei Glocken stürzten herab und zerbrachen. Noch im gleichen Jahr wurden zwei neue gegossen und aufgehängt, die im Ersten Weltkrieg nur knapp dem Einschmelzen entgingen.
Der BRAND vom 21. April 1945 übertraf dann alle bisherigen. Nur das Mauerwerk und das Zellengewölbe blieben übrig.
Viele Jahre dauerte der Wiederaufbau und 1958 erfolgte dann endlich die EINWEIHUNG der Kirche. Erst im Jahre 1985 wurde die TURMHAUBE MIT KUGELKREUZ in einer Höhe von 32 Metern wieder zum WAHRZEICHEN unserer Heimatstadt.
Auf eine allerorts übliche KIRCHTURMUHR hatte man allerdings von vornherein verzichtet - >GEBRANNTES KIND< halt...:shock: