SILVESTERNACHT 1900 ! Vom Turme schlägt die zwölfte Stunde. Froh klingen im trauten Kreise die Becher, Gläser & Humpen zum
>PROSIT NEUJAHR !< Durchs geöffnete Fenster tönt es hinaus, die Nachbarn rufen sich’s zu, alles eilet herbei, mit freudigem
ZURUF das
NEUE JAHR zu begrüßen.
Den
FREUNDEN in der Ferne senden wir unsern
GLÜCKWUNSCH zu, rufen uns mit einer
NEUJAHRSKARTE ins Gedächtnis.
Das
GESCHÄFT, welches mit dem
VERTRIEB derselben gemacht wird, nimmt große Dimensionen an.
DER BRAUCH, VERZIERTE NEUJAHRSKARTEN ZU SENDEN, hat sich von
ENGLAND über den Kontinent verbreitet und sich rasch bei uns eingebürgert.
Dem
DEUTSCHEN WESEN entsprechend fügen wir aber statt süßlichen Engelsfiguren, ewigen Rosen, Veilchen & Mistelzweigen gern eine Portion erfrischenden & ergötzenden
HUMOR hinzu.
Mit der
POST fliegen sie uns am
NEUJAHRSMORGEN zu, die zahllosen
KARTEN & KÄRTCHEN, in Buntdruck, mit Goldlettern und sinnigen Anspielungen geziert. Was war es auch für
MÜHE, im
KAUFLADEN unter den Hunderten von
KARTEN die richtige zu wählen, um in zarten Andeutungen der
BLUMENSPRACHE, in kräftigem
HUMOR oder derberem
WITZ die
BEZIEHUNG zwischen
ABSENDER & EMPFÄNGER zu kennzeichnen.
Wie alles, sind auch die
NEUJAHRSKARTEN mit ihren schriftlichen oder bildlichen
WÜNSCHEN der
MODE unterworfen.
Es hat sich sogar eine eigene
INDUSTRIE entwickelt, die stets Neues ersinnt, und auch etliche
GESCHMACKSVERIRRUNGEN zu Tage fördert: die
BAROCKEN KÄRTCHEN mit spitzenddurchbrochenem Rande, Feen, Rosenwagen, Täubchen & Blumengirlanden.
Ich lade Sie nun herzlich ein zu einem
NOSTALGIE – STREIFZUG DURCH DIE WELT DER NEUJAHRSKARTEN
um die Jahrhundertwende (1890 – 1910).
Folgende
THEMENBEREICHE standen damals hoch in der Gunst:
(1) NEUJAHRSENGEL – GROSS & KLEIN
(2) BIEDERMEIER
(3) KINDERWELT mit GOLDPRÄGUNG
Selbstredend lagen die MEINUNGEN zum KARTENDESIGN nicht nur bei der
KÄUFERSCHAR weit auseinander. Auch
BUCHDRUCK-FACHLEUTE gaben ihren sprichwörtlichen "Senf" dazu:
„Wer die NEUJAHRSKARTEN in den Schaufenstern der Buch~ & Papierhandlungen etc. mit Aufmerksamkeit betrachtet, wird zugeben müssen, dass dieselben von Jahr zu Jahr an SCHÖNHEIT der Zeichnung und GEDIEGENHEIT der Ausführung mittels der LITHOGRAPHISCHEN PRESSE zunehmen. Wir finden auf ihnen die reizendsten, sinnigsten MOTIVE in wahrhaft künstlerischer Wiedergabe. Die kleinen, zierlichen LANDSCHAFTEN & BLUMENSTÜCKE, welche die KARTEN schmücken, sind in so gefälliger, eleganter und durchaus dezenter Weise koloriert, dass wir der Druckausführung das HÖCHSTE LOB erteilen müssen.“(1887 Archiv für Buchdruckerkunst)
„Die TECHNISCHE AUSFÜHRUNG DER NEUJAHRSKARTEN ist durchweg eine völlig einwandfreie, leider kann man aber nicht sagen, dass der KÜNSTLERISCHE WERT demjenigen der Technik entspricht. Hier und da findet man wohl das Bestreben, etwas Künstlerisches zu bieten, im großen und ganzen aber merkt man die Absicht, der GROSSEN MENGE das weitgehendste Entgegenkommen nach alltäglichen süßen, weichlichen, nichtssagenden MOTIVEN zu zeigen.
Von besserer Wirkung sind viele der in DREIFARBENDRUCK ausgeführten KARTEN, aber auch hier macht sich das Vorgesagte noch deutlich bemerkbar. Möge die NEUJAHRSKARTEN – INDUSTRIE sich an anderen Zweigen des Buchgewerbes ein Beispiel nehmen, die, wenn auch langsam, so doch allmählich, immer mehr die KUNST im Verein mit der TECHNIK pflegen.“(1901 Archiv für Buchgewerbe)
Im Jahre 1895 zeichnete ein Mitarbeiter der >Norddeutschen Allg. Zeitung< folgendes BILDCHEN von der
>Demokratisierung der Lebensgewohnheiten< da wider Erwarten auch schon bei den sogenannten
KLEINEN LEUTEN der Gebrauch des Abschickens verhältnismäßig
KOSTSPIELIGER NEUJAHRSKARTEN Eingang gefunden hatte:
„Wir saßen am Samstag in einer LUXUS-PAPIERHANDLUNG, der von KÄUFERN grade aus den niederen Volksklassen überfüllt, und fast jeder ersteht ohne Ausnahme mindestens ein halbes, wenn nicht ein ganzes DUTZEND und darüber NEUJAHRSKARTEN einschließlich UMSCHLÄGEN. Da sehen wir zwei PFERDEBAHNKONDUKTEURE, die einen ganzen Haufen KARTEN, darunter solche für 45 Pf. das Stück käuflich an sich bringen, daneben zwei junge NÄHERINNEN, die sich mit einem halben Dutzend das Stück zu 15 Pf. begnügen. Ihnen zur Seite suchen sich mehrere DIENSTMÄDCHEN verschiedene KARTEN für ihren Schatz aus, und diesen reiht sich eine alte ergraute BUDIKERIN in Begleitung eines trippelnden ärmlichen MÜTTERCHENS an, beide suchen sich 12 GRATULATONSKARTEN aus und bezahlen eine jede 1 M. 80 Pf. dafür. Dem Beobachter schneidet es durchs Herz, diese VERSCHWENDUNG sogenannter ‚armer Leute‘ mit ansehen zu müssen.
Es tritt ein etwa zehnjähriges MÄDCHEN ein, die eine ZIGARRENKISTE, welche an einer Schnur befestigt ist, um den Hals trägt.
>Wiederverkäufer erhalten hohen Rabatt<, so hat sie im SCHAUFENSTER gelesen, und nun möchte sie für 35 Pf. KARTEN kaufen. 25 Stück soll sie für 40 Pfennig erhalten, ihr fehlen 5 Pf.
Rasch stecken wir ihr die 5 Pf. zu, und sie nimmt strahlenden Auges die 25 NEUJAHRSKARTEN vom Verkäufer in Empfang, um sie draußen dem PUBLIKUM für 5 Pf. das Stück anzubieten.
Wird die KLEINE ihre WAARE an den Mann bringen ?“Wie sich THEMEN & DESIGN DER NEUJAHRSKARTEN in der Folgezeit (1. Weltkrieg / Goldene 1920er & WW-Krise) entwickelten,
wird im nächsten KOMMENTAR beschrieben...