Die Bahnhofstraße erzählt von der Entwicklung
Senftenbergs im letzten halben Jahrhundert
Die Straßen einer Stadt - Fahrbahn, Bürgersteige, Vorgärten, Grünanlagen,
Häuser, Läden oder was wir sonst noch finden - sind dem Kleide eines
Menschen zu vergleichen. Wie wir einen Menschen zunächst, ob wir wollen
oder nicht, nach seinem Aeußeren, seinem Kleide beurteilen, genau so
geben die Straßen mit ihren Häusern dem Beschauer manchen wertvollen Aufschluß.
Wie die Straßen beschaffen sind, fühlt er ohne weiteres, wenn er auf ihnen
läuft oder mit irgendeinem Fahrzeug entlangfährt; sein Auge erhält schöne
und unschöne Eindrücke, sogar wenn er nur kurze Zeit in den Mauern der
Stadt verweilt. Daher tragen die Straßen wesentlich dazu bei, für eine
Stadt zu werben oder auch nicht. So manche deutsche Stadt wird deswegen so
gern aufgesucht, weil ihre zweckmäßig und schön angelegten Straßen immer
von neuem für diese Stadt werben.
Können wir schon aus dem gegenwärtigen Zustand einer Straße allerhand ablesen,
so werden wir die Entwicklung einer Stadt viel genauer erfassen, wenn wir uns
die Straßenbilder ansehen, welche vergangene Zeiten widerspiegeln.
Hier kann die Bahnhofstraße sehr interessant erzählen, denn sie hat ihr
Gesicht innerhalb eines im Städtebau als kurz zu bezeichnenden Zeitraum
gründlich geändert. Die sprunghafte Entwicklung Senftenbergs im letzten halben
Jahrhundert kann gar nicht besser wiedergegeben werden, als durch das sich
immer wieder ändernde Gesicht dieser Straße! Doch lassen wir die Bilder
selbst sprechen:
Zeit: etwa 1880 - 90:
Als Namenstag der Bahnhofstraße kann man den April 1870 bezeichnen, denn zu
dieser Zeit wurde Senftenberg durch die Strecke Großenhain - Cottbus an das
deutsche Reichsbahnnetz angeschlossen. Vorher bestand die Bahnhofstraße als
Kreischaussee, die 1852 - 56 ausgebaut worden war.
Das Bild zeigt uns die Bahnhofstraße am Hause des Schmiedemeisters Ziethe um
1889. Das stattliche Haus, 1873 erbaut, in der Art, wie solche damals in
größeren Dörfern und kleinen Landstädtchen gebaut worden sind, zeigt uns, daß
der Besitzer durch seinen Fleiß und Tüchtigkeit die günstige Geschäftslage
ausnutzt, die der gewonnene Krieg 1870/71 dem deutschen Vaterlande im allgemeinen
brachte.
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Auch Senftenberg, damals noch ein kleines Landstädtchen von etwa 3000 Einwohnern,
begann sich zu entwickeln. Die älteren Einwohner Senftenbergs werden vielleicht
auf dem Bilde noch Bekannte sehen können, auch die damaligen Uniformen werden
ihnen nicht unbekannt sein. Ebenso werden sie sich an die Gräben erinnern, von
denen man im Bilde den einen sieht, der auf einer Steinbrücke überschritten
werden mußte, um in das Ziethesche Haus zu gelangen.
Zeit: etwa 1900:
Das zweite Bild zeigt uns das Haus und die Bahnhofstraße um 1899, also um die
Jahrhundertwende herum. Senftenberg hat sich kräftig weiterentwickelt, es ist die
Einwohnerzahl auf rund 8000 gestiegen. Die Gräben sind jetzt zugeschüttet worden,
denn einmal brauchte man Verkehrsraum und zum anderen Male war der Wasserstand
in den Gräben durch Grundwasserabsenkung so gering geworden, daß gesundheitliche
Schädigungen befürchtet werden konnten. Wir sehen im Bilde rechts die erhöhte
Fahrbahn, die einem gesteigerten Fahrverkehr der damaligen Zeit wohl dienlich
sein konnte. Von der gegenüberliegenden Post ist freilich im Bilde noch nichts zu
sehen, sondern im Gegenteil befinden sich da noch ausgedehnte Gartenanlagen.
Zeit: etwa 1920-33:
Inzwischen entwickelte sich Senftenberg mit Riesenschritten weiter. Die Einwohnerzahl
will die 15000 überschreiten. Das Ziethesche Haus ist längst einem mehrstöckigen
Hause gewichen und hat auch ein gleiches Nachbarhaus erhalten. Das ehemals offene
Gartengelände ist vollkommen in die sogenannte "geschlossene Bauweise" überführt
worden. Ebenso sind die Vorgärten verschwunden und haben Raum für breite Fußsteige
gegeben, wie wir sie in kleinen Städten nicht allzuhäufig finden. Einen freundlichen
Eindruck erwecken die schönen Linden.
Zum Originaltext ist zweierlei anzumerken: Zum einen vervollständigt der Autor natürlich noch
den geschichtlichen Abriß bis zur Mitte der 1930er, wobei er großes Augenmerk auf die
umfangreiche Baumaßnahme im Jahr 1934 legt. Diesen Teil hebe ich mir für eine spätere
"Verarbeitung" auf.
Zum anderen gehe ich mit Pitschel nicht konform... er schreibt "Von der gegenüberliegenden
Post ist freilich im Bilde noch nichts zu sehen...". Das stimmt zwar, liegt aber wohl
eher am Bildauschnitt, als daß das Postgebäude (immerhin Baujahr 1883!) noch nicht
existierte und stattdessen an dieser Stelle "ausgedehnte Gartenanlagen" das Bild prägten.
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