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05.01.2020
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Mit steigender Anzahl digital archivierter Abbildungen aus Senftenberg und Umgebung kommt es zwangsläufig immer seltener zu einer sogenannten Schnapszahl (mathematisch: Repdigit). Und tatsächlich habe ich in der Vergangenheit das Erreichen derartiger Zahlen nicht besonders herausgestellt. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Ohnehin wäre die letzte Möglichkeit beim Archivieren des 1111. Motivs gewesen, was aber auch schon vor einigen Jahren stattfand. Da es ziemlich unwahrscheinlich ist, daß ich die 3333 jemals erreichen werde, möchte ich die Chance nutzen, das 2222. Senftenberger Motiv auf www.gruss-aus-senftenberg.de standesgemäß zu feiern.
Und wie bei den normalen Jubiläen, also dem Erreichen einer weiteren "Hundertschaft", ist das entsprechende Stück musikalisch behaftet...

Senftenberg
Max Artlich, Photogr., Senftenberg.
Aufnahme <= 1912
Sammlung Matthias Gleisner
Im Gegensatz zu den ganzen Chören, Kapellen oder Spielmannszügen, die ich bei solchen Gelegenheiten vorstelle, hatte es obiges Exemplar schon deutlich mehr in sich, was die Beschaffung von Hintergrundinformationen betrifft. Aber der Reihe nach...

Als das Stück vor 11 Monaten bei eBay als Sofortkauf angeboten wurde, zögerte ich 5, 6 Minuten. Der aufgerufene Preis war jetzt nicht soooo billig, daß man bedenkenlos hätte zuschlagen können. Zumal das Motiv nicht sonderlich sensationell ist. Das hat man alles schon mehrfach gesehen... Kinder mit Spielzeug, Kinder mit Musikinstrumenten, Kinder mit anderen Kindern... und alles vor einer Kulisse in einem Fotoatelier aufgenommen. So etwas kennt man auch aus Senftenberg! Jetzt kommt das aber. Zum allergrößten Teil findet man dies auf sogenannten CDVs oder Kabinettfotos (das Thema hatten wir hier schon einmal). In diesem Fall war schnell erkennbar, daß es sich um eine gedruckte Ansichtskarte handelt, die zudem, und das kommt bei CDVs eigentlich nie vor, bildseitig eine ziemlich konkrete Beschriftung trägt.
Dies alles in Kombination mit der doch recht ungewöhnlichen Schreibweise des Vornamens weckte unwillkürlich den Forscherdrang in mir und ich erwarb das gute Stück um kurze Zeit später meine Recherchen zu beginnen.

Aber wo soll man bei einem Exemplar beginnen, das einem keine weiteren Hinweise liefert?
Bei meinen Überlegungen, welchen Zweck diese Karte dereinst erfüllt haben könnte, schossen mir relativ schnell Begriffe wie "Wunderkind" und "Autogrammkarte" durch den Kopf. Daß es sich in einem solchen Fall um ein "Wunderkind auf Durchreise", also lediglich in Senftenberg gastierend, handeln könnte, schloß ich eigentlich von Anfang an aus.
Also, das am nächsten kommende Einwohnerbuch Senftenbergs von 1914 wälzen! Und tatsächlich findet sich darin ein Max Radelow, von Beruf Lademeister, in der Bahnhofstraße 34. Nur ein Haus weiter, in der Bahnhofstraße 36, residierte damals der verantwortliche Kartenproduzent und Fotograf Max Artlich! Es lag also sehr nahe, daß jener Max Radelow beim benachbarten Fotografen Artlich obige Produktion in Auftrag gab. Wann dies geschah, war bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar.
Gleichzeitig waren damit aber die Recherchen von Senftenberger Quellen vorerst an ihrem Ende angelangt. Hier ging es irgendwie nicht weiter.

Senftenberger Anzeiger (1911)
Ich überlegte mir, daß, wenn ein Vater in jener Zeit seinem musikalisch ambitionierten Sprößling eine derartige Ansichtskarte spendiert, der Junge wohl tatsächlich etwas auf dem Kasten hatte. Und daß dieses Talent dann wohl nicht mit Eintritt in die Pubertät verschwand sondern vielleicht in eine Art Karriere mündete.
Also wurde das Internet mit Kombinationen von Suchbegriffen befragt. Zu meiner Freude erzielte ich dabei eine Handvoll Treffer. Es war zum Beispiel von einem Radelow-Quartett die Rede, von Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen, von Wirkungsorten wie Leipzig, München oder Hamburg.
Sollte es wirklich so einfach sein?
Komischerweise war, wenn der Vorname angegeben wurde, nie von einem Hellmuth, sondern immer nur von einem Helmut, manchmal von einem Helmuth die Rede. Wer lag hier falsch? Der Ansichtskartenproduzent oder die Quellen im Internet? Oder ist unser Hellmuth gar nicht der Helmut aus dem Internet?

aus deutschen, holländischen und kanadischen Zeitungen (Ende der 1930er)
Radio-Programme
aus "Zeitschrift für Musik" (1939 und 1940)
Desweiteren fand ich eine Aufnahme, die vom Radelow-Quartett eingespielt wurde. Aber Vorsicht, das ist nicht gerade die ganz leichte Kost!

Das Radelow-Quartett spielt das "Streichquartett No. 1"
von Emil Nikolaus von Reznicek
Über einige Zwischenstationen landete ich sogar bei Aaron Radelow, einem Möbelbauer aus San Diego, USA. Auf seiner Internetseite, die jedoch mittlerweile überarbeitet wurde, schrieb er von seinen ungarischen und deutschen Wurzeln und dabei ... German grandfather was Concert Master of the Hamburg Symphony. ...
Meine mehrmaligen, und über verschiedene Kanäle geführten, Versuche in Kontakt mit dem Enkel zu treten und von ihm wenigstens rudimentäre Informationen wie Geburtsort und -datum seines Großvaters zu erhalten, schlugen sämtlichst fehl. Keine Reaktion! Ignoranz und Unhöflichkeit ist halt kein Alleinstellungsmerkmal einiger Leute aus Senftenberg und Umgebung...
Und damit war ich wieder einmal an Grenzen gestossen. Ich hatte zwar eine ganzen Sack voll loser Enden, die zusammengehören könnten, aber keine absolute Gewissheit. Das änderte sich schlagartig, als mir einige Wochen später zwei Artikel im Senftenberger Anzeiger vor die Augen gelangten...
Senftenberger Anzeiger (1926)
Der links abgebildete Zeitungsartikel machte plötzlich alles sonnenklar! Auch die unterschiedlichen Schreibweisen des Vornamens waren kein Ausschlußkriterium mehr. In Kombination mit dem rechts abgebildeten Text aus dem Jahr 1938 konnte auch der Kreis zu den Meldungen über Auftritte des Radelow-Quartetts und Einsätze bei Radioaufnahmen mit dem Leipziger Symphonieorchester Ende der 1930er geschlossen werden.
Es ist sogar möglich, daß wir Hellmuth Radelow auf der nachfolgenden Fotografie sehen. Die Aufnahme zeigt das Leipziger Symphonieorchester bei einem Konzert unter dem Chefdirigenten Hans Weisbach, der zwischen 1933 und 1939 den Taktstock in Leipzig führte.
Senftenberger Anzeiger (1938)
Daß ich im letzten Absatz die Hellmuth-Schreibweise des Vornamens verwendete hat seinen Grund!
Denn mit Unterstützung der Senftenberger Archivarin Ines Jahn, die über gewisse Verbindungen verfügt, konnte folgendes ermittelt werden:

Gustav Adolf Hellmuth Radelow

* 11. Februar 1902 in Großräschen

Eltern : Radelow, Max und Pauline (geb. Stuckatz)

† 1961 in Hamburg

Mit Hilfe des amtlich verbrieften Geburtsdatums konnte schlußendlich auch die Ansichtskarte hinreichend genau datiert werden.

Und nun sage noch einer, Ansichtskarten sammeln und erforschen ist pille-palle!